Mittwoch, 11. September 2013

Carlos und der Kampfsport

Kürzlich beschäftigte ein 17jähriger Gewalttäter die ganze Schweiz: die Rede ist von "Carlos, dem Messerstecher" wie er von den Medien auch genannt wurde.
Ein Aufschrei ging durchs Land, als von den Kosten gesprochen wurde - Carlos`Opfer , u.a. ein Jugendlicher, dem er im Juni 2011 in Zürich am helllichten Tag ein Messer in der Rücken gerammt hat, blieben lediglich Statisten im Medienrummel....

Es liegt mir fern mich hier über unser Strafsystem, Resozialisierungsversuche oder gar Ethisches auszulassen. Dies wurde in den letzten Tagen genügend von offiziellen oder gar selbsternannten "Experten" besorgt. Zudem bin ich weder Jurist, noch Sozialarbeiter oder Jugendtherapeut.
Aber als jemand, der sich seit über drei Jahrzehnten mit Kampfkünsten und deren Auswirkung auf den Einzelnen beschäftigt - und zwar praktisch und theoretisch, möchte ich auf die aktuelle Debatte "macht Kampfsport gewalttätig" in Form dieses Beitrags eingehen.

Seit Jahren beschäftigt die Frage, ob denn Training von Kampfsportarten aggressiv mache immer wieder die Öffentlichkeit. Mittlerweile findet man zu beiden Positionen mehr als genug Studien um sich mit "wissenschaftlichen" Argumenten zu wappnen um so seine eigene Meinung zu untermauern. Zwei Beispiele wären "Promoting self regulation through school based martial arts training" von Kimberley D. Lakes und Wiliam T. Hoyt als Argument für Kampfsporttraining mit Jugendlichen und eine Studie von Martin Killias (Kriminologisches Institut der Universität Zürich) von 2009 in dem angeblich "bewiesen" worden sei, dass jugendliche Kampfsportler häufiger gewalttätig werden, als solche, die z.B. Mannschaftssportarten ausüben.
Die grösste Boulvardzeitung der Schweiz titelte zudem "Jugendanwalt zahlte einem Mutterprügler
Samurai-Kurse". Der letzte Ausdruck weckte schliesslich mein Interesse.
Ein Samurai - übersetzt "Dienender", war der Angehörige der japanischen Kriegerkaste, welche die Geschicke Japans über Jahrhunderte hinweg dominierten, bis Sie 1868 durch die Meiji-Restauration aufgehoben wurde.
Noch heute werden v.a. in Japan gewisse Kampfdisziplinen verschiedenere Samurai-Familien, sogenannte "Ryu-ha" trainiert. Vor allem Ryu-ha, die Schwertkampf ins Zentrum stellen sind weiterhin beliebt. Was man sich in der Schweiz unter Samurai-Training vorstellen muss, ist mir jedoch schleierhaft. Rumrennen im Kimono mit billigen Schwertreplika, wie sie im besagten Zeitungsartikel abgebildet waren ? Vor allem, wenn man später aus den Medien erfahren konnte, dass es sich bei diesem Samurai-Training um Thai Boxen handelt.
Ein jugendlicher Straftäter extrem gewalttätig und angeblich nicht sozialisierbar erhält intensives Thai Box Training von einem mehrfachen Weltmeister in dieser Disziplin, der jedoch selbst mehrfach vorbestraft ist.
Kommen wir zurück zu der gegenwärtig wieder heiss diskutierten Frage, ob "Kampfsport" aggressiv macht oder nicht. Das Problem liegt hier beim Begriff "Kampfsport".
Damit werden alle möglichen Formen des unbewaffneten und bewaffneten Kampfes in einen Topf geworfen. Somit findet sich das heute vor allem als Gesundheitsystem praktizierte Tai chi neben dem Vollkontaktsport Thai Boxen, Mixed Martial Art neben japanischem Kendo (Sportfechten) und die olympische Disziplin Judo neben exotischeren Formen wie dem russischen Systema. Das Kampfsport nicht gleich Kampfsport ist, verstehen sogenannte "Experten" erst, wenn man sie darauf aufmerksam macht, dass Tischtennis und American Football kaum Berührungspunkte haben, ausser dass etwas Rundliches durch die Luft befördert wird....
Schaut mal also beim Begriff "Kampfsport" genauer hin, wird sofort klar, dass die Frage nach der Aggressionssteigerung pauschal gar nicht beantwortet werden kann - sondern nur individuell.
Einerseits gibt es Systeme, die von ihrer Konzeption her dynamischer und aggressiver sind und solche, die einen eher defenisveren und empfangenden Charakter aufweisen. Diese Unterschiede liegen übrigens meistens in der Entstehungsgeschichte des jeweiligen Kampfsports begründet.
So gibt es also für jeden Menschentyp und jedes Bedürfnis den geeigneten Kampfsport (wobei der Begriff "Kampfsport" ebenfalls kritisch zu beäugen ist...). Würde ich einen jungen Straftäter in ein Thaiboxtraining schicken ? Müsste ich das Ganze nur unter dem Aspekt des Systems beurteilen, würde die Antwort ganz klar "nein" lauten - Thaiboxen oder Muay Thai ist eine schlagende Vollkontaktdisziplin, in der nebst den Fäusten auch Ellenbogen und Beine - v.a. die sogenannten "Low Kicks" (Schienbeintritte zum Oberschenkel) eingesetzt werden. Ein dynamischer, harter Kampfsport, der von den Praktizierenden ein beträchtliches Mass an körperlicher Fitness und Durchsetzungsvermögen verlangt. Für einen jungen Mann wie Carlos aber unter Umständen nicht das Richtige: sobald Schläge in einem sportlichen Wettkampf eingesetzt werden, steigert dies die Aggression. Anders bei ringkampfähnlichen Kampfsportarten wie Judo, Brasilian Jiu Jitsu, Schwingen oder eben Ringen. Schon das Beobachten der Natur lehrt uns, dass viele Säugetiere als Jungtiere ringen.
Dabei geht es nicht nur um das Dominieren des Andern durch Wurf, Hebel oder Festhaltetechniken, sondern um eine andere Erfahrung des Gegenübers.
Bei schlagenden Systemen besteht eine Distanz zwischen mir und meinem Gegner. Der leere Raum wird durch explosive Kraft gefüllt, die das Ziel hat meinen Gegner niederzustrecken. Beim Judo beispielsweise bin ich mit meinem Gegner auf engster Tuchfühlung - gerade für junge Menschen eine wichtige Erfahrung in einer an sich distanzierten und weitgehenden ent-körperlichten Gesellschaft.
Daher wäre das Training eines Ringkampfsystems für den jungen Carlos wohl die bessere Alternative: körperlicher Fitness wäre hier genauso gefordert wie Durchsetzungsvermögen, aber der dauernde Körperkontakt kann gleichzeitig auch Sozialisierung sein.
Ich wähle hier bewusst den Begriff "kann sein", weil nicht nur das System ausschlaggebend ist, sondern eine genauso wichtige Rolle spielt die Person dahinter: der Trainer oder Lehre.
Ein Kampfsportlehrer sollte idealerweise jemand sein, der seinen Schützlingen die richtige Geisteshaltung beibringen kann, wenn es um den Umgang mit ritualisierter Gewalt geht - denn genau das ist jede Kampfsportart in ihrer Essenz. In den Händen eines ausgeglichenen Trainers, der ein gewisse geistige Reife aufweisen kann, könnte auch eine eher aggressive Disziplin wie das das Thai Boxen durchaus ein Weg sein um jugendlichen Straftätern auf diesem Wege zu helfen und zu ihrer Sozialisierung beizutragen.














1 Kommentar:

  1. Hallo Stefan
    Ich finde deinen Beitrag wirklich sehr interessant und du hast in vielen Punkten auch Recht. Ich finde jedoch dass auch zu beachten ist dass Carlos während dieser Zeit in der er noch Thaiboxen trainieren konnte nicht gewalttätig wurde oder sonst Probleme machte. Er stand unter der Aufsicht von Shemsi Beqiri einem mehrfachen Weltmeister im Thaiboxen. Erst als der Staat oder das "System" dachte dass der Sport ihm eher schaden als helfen würde sich wieder einzugliedern nahmen sie ihm den Sport weg und er wurde dann wieder rückfällig.

    Ich schaue öfters mal wieder in deinen Blog vorbei, ich hoffe dass du noch mehr Beiträge schreibst.

    Gruss

    Alex

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